Gottfried in a Nutshell #7

Was ist Gerechtigkeit?

Im Sommer 1703 ließ Kurfürstin Sophie für Leibniz in den Gästequartieren der Orangerie ihrer Sommerresidenz Herrenhausen ein Apartment herrichten. So kam es inmitten von Orangenbäumchen und Buchsbaumhecken zwischen dem Philosophen und dem absolutistischen Fürsten, Georg Ludwig, Kurfürst von Hannover und späterer König von England und Irland zu einem bemerkenswerten Gespräch, welches Leibniz für die Nachwelt schriftlich festhielt. Sie sprachen über nichts Geringeres als die Frage: Was ist Gerechtigkeit? Ist Gerechtigkeit allein das Handeln nach einem Gesetz?

Leibniz antwortete: Nicht automatisch, "denn es sind Menschen, die ein Gesetz erlassen und wenn es diesen Menschen an Weisheit oder an gutem Willen fehlt, können dies sehr schlechte Gesetze sein". Gerechtigkeit, so der Philosoph zum Machthaber, sei nicht das weltliche Recht eines Herrschers, welches willkürlich sein kann, sondern eine von Gott gegebene ewige Wahrheit. Es folgte eine Erläuterung à la Leibniz: "So wie die Natur der Dinge eine göttliche Ordnung besitzt, deren ewige Wahrheiten Zahlen und Proportionen sind. So ist auch das Recht eine ewige Wahrheit". Es gibt die Gerechtigkeit auch, wenn es in der Welt gar keine Gesetze gäbe. Das Gesetz kann deshalb Unrecht sein, nicht aber das Recht.

Der studierte und promovierte Jurist Leibniz trat früh als fortschrittlicher Rechtsreformer hervor. Für den Mainzer Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn versuchte er sich, gerade mal zwanzigjährig, an einer modernen Neukodifizierung des Privatrechts, die Verbesserung des Corpus Iuris Civilis, dem Rechtsbuch des oströmischen Kaisers Justinian. Allerdings gehörte das juristische Tagesgeschäft im Sinne des höfischen Verwaltungsdienstes nicht wirklich zu seinen Lieblingstätigkeiten. Er müsse in Hannover "Gerichtsakten studieren, Urteile fällen und gelegentlich auf Anordnung des Fürsten politische Gutachten abgeben. [...] Dennoch verlangt der hochherzige Fürst in seinem mir erwiesenen Wohlwollen nicht, daß ich meine Zeit vollständig den Staatsgeschäften widme, sondern hat es mir freigestellt, den Sitzungen fernzubleiben, so oft es mir wegen meiner anderen Arbeiten nötig erscheint. [...] Tatsächlich möchte ich nicht verurteilt sein, die Sisyphusarbeit der Gerichtsgeschäfte wie einen Felsblock wälzen zu müssen."

Leibniz dachte in sehr viel größeren und universalen Dimensionen. Seine Aufgabe sah er als politischer Berater an der Schnittstelle von Macht, Politik und absolutistischer Gesellschaftsführung. Dabei ging es ihm um die naturrechtliche Lebensordnung, die rationale Staatsordnung und die völkerrechtliche Friedensordnung. Im Gespräch im Großen Garten bringt Leibniz es auf die Formel: "Iustitia est caritas sapientis", "Gerechtigkeit ist die praktische Menschenliebe des Weisen (la charité du sage), d.h. eine durch Klugheit vermittelte Güte gegenüber den anderen". Auch große Herrscher sollten gerecht nach diesem Gebot regieren, indem sie sich für das allgemeine Wohl der Menschen einsetzen, so Leibniz.

Gerechtigkeit hing für Leibniz eng mit Freiheit zusammen. Kann man es billigen, so setzte sich die Diskussion fort, dass in England Menschen versklavt werden? Thomas Hobbes, einer der berühmtesten amerikanischen Staatsrechtler seiner Zeit, hatte mit dem Sklavenhandel in Carolina (USA) sehr viel Geld verdient und das "absolute Recht des Herrn über den Sklaven" vertreten. Eine heikle Frage für Leibniz. England hatte das Handelsrecht an Sklaven, und sein Gegenüber war kurz vor der Besteigung des englischen Throns. Um so bemerkenswerter ist Leibniz' Antwort: Sklaverei ist Unrecht, "denn es wird immer wahr bleiben, dass ein anderes Recht sich dem Missbrauch des Rechts entgegenstellt. Es ist dies das Recht der vernunftbegabten Seelen, die natürlich und unveräußerlich frei sind." Es ist das "Gebot der Billigkeit, die fordert, auf gleiche Weise Sorge für das Wohlergehen eines anderen zu tragen, wie er selbst dies von ihm verlangen würde; und ebenso durch das Gebot der Menschliebe, die fordert, sich für das Glück anderer Menschen einzusetzen."

Besonders Krisen wie die aktuelle Corona-Pandemie führen uns deutlich vor Augen, wie wichtig, aber auch wie komplex die Suche und das Streben nach Gerechtigkeit und Freiheit sind. Leicht kann man sich noch auf ein "bonum commune" einer Gesellschaft verständigen; die konkrete Umsetzung dieses Gemeinwohls als handlungsleitendes Prinzip in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist deutlich komplizierter und vielschichtiger und bedarf auch einer stetigen Nachsteuerung. Gerechtigkeit beginnt bei jedem Einzelnen, beispielsweise in der gegenseitigen, allgemeinen Rücksichtnahme im Alltag, und reicht bis zur klugen politischen Entscheidung und Gesetzgebung verantwortungsvoller Staatsoberhäupter. So haben auch Leibniz' Gedanken zur Gerechtigkeit nichts an Aktualität eingebüßt. Durch seine besondere Stellung im "inner circle" des Welfenhauses hat er ein 'modernes' Denken angestoßen, weg von einem Gewaltmonopol durch einen absolutistischen Herrscher im Sinne eines Ludwig XIV., in Richtung eines Staates, der auf das "Allgemeine Beste" ausgerichtet ist. Leibniz' Haltung, sich auch für das "Glück der anderen" einzusetzen, ist 2021 mehr denn je gefragt.

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Dr. Ariane Walsdorf
Referat für Kommunikation und Marketing
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