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Interview mit Prof. Dr. Julia Gillen

Interview mit Prof. Dr. Julia Gillen, Vizepräsidentin für Bildung

Die Pandemie, der Wandel zur Stiftungsuniversität und die zunehmende Digitalisierung: Viele Ereignisse in der jüngsten Zeit wirken sich auch auf die Lehre an der Leibniz Universität Hannover (LUH) aus. Wie kann die LUH dem begegnen, wie stellt sich der Bereich künftig auf? Die Vizepräsidentin für Bildung an der LUH, Prof. Dr. Julia Gillen, im Interview.

Gute Lehre nimmt wahr, wo die Studierenden stehen. Was hat sich in den vergangenen Jahren geändert?

Jede Generation ist anders und hat spezifische Interessen und Bedürfnisse. DIE Studierendenschaft gibt es nicht. Noch vor 20 Jahren waren es nur etwa 20 bis 30 Prozent eines Jahrgangs, die nach ihrem Schulabschluss eine Hochschule bzw. eine Universität besuchten. Heute sind es deutlich mehr als die Hälfte. Die aktuelle Generation der Studierenden ist nicht nur durch eine hohe Diversität hinsichtlich ihrer Bildungsherkünfte und ihrer Leistungs- und Lernbereitschaft geprägt, sondern viel deutlicher als die vorigen Generationen durch ihren Umgang mit digitalen Medien. Außerdem haben Studierende heute andere Wünsche ans Leben. Viele legen Wert auf eine gute Balance zwischen Arbeit und Privatleben, möchten später in Teilzeit arbeiten und setzen neue Prioritäten. Wir tun gut daran, das wahrzunehmen und darüber zu sprechen. Universität ist einerseits ein Ort, an dem man sich fachlich entwickelt und darin gefördert wird, komplexe Denkprozesse zu vollziehen. Sie ist aber, andererseits, auch ein Ort, an dem man hinsichtlich seiner Werte und Einstellungen geprägt wird und seine Haltung weiterentwickelt. Wir haben dabei einen starken Bildungsauftrag und können die Gestalterinnen und Gestalter der Zukunft ausbilden.

Wie kann die LUH diese Studierenden abholen? Dafür gibt es ja kein Patentrezept.

Zunächst müssen wir relativ früh im Studium transparent machen, was in unseren Studiengängen erwartet wird, und früh zeigen, welche Lern- und Arbeitsgewohnheiten dafür wichtig sind. Zudem sollten Klausuren, die erfahrungsgemäß eine Hürde im Studium darstellen, nicht zu spät im Studienverlauf verortet sein. Sie sollten also während der ersten drei Semester geschrieben werden, damit in dieser Zeit klar wird, ob diese Hürde genommen werden kann. Ein Ziel sollte es aber auch sein, dass wir die Studierenden nicht im Unklaren lassen, auf welche Weise sie das Pensum bewältigen können. Hier können wir mit Beratungsgesprächen begleiten und in unseren Denk- und Lernwerkstätten Unterstützung anbieten, wie es zum Beispiel in der Mathematik geschieht. Studienprogramme sollten wir außerdem so aufstellen und weiterentwickeln, dass sich junge Menschen angesprochen fühlen und auch künftig die LUH als Studienort wählen.

Viele Menschen verbinden mit universitärem Lernen immer noch ein klassisches Bild: Junge Menschen sitzen in einer Vorlesung, hören zu, vollziehen das Erklärte nach und schreiben mit. Nachfragen finden dabei nur gelegentlich statt und das selbstständige Lösen von Problemen ist kaum vorgesehen. Viele unserer Lehrenden machen sich schon seit längerer Zeit auf den Weg, dieses klassische Bild des akademischen Lernens zu verändern, was ich persönlich sehr positiv sehe. Wir sollten spätestens nach der Grundlagenphase anfangen, stärker auf problem- oder projektorientiertes Lernen zu setzen und damit Lernansätze zu nutzen, die von konkreten Problemen der Wirklichkeit ausgehen. In den Landschaftswissenschaften z.B. wird projektorientiertes Lernen  schon sehr lange umgesetzt, so dass Studierende dort lernen, praxisnah zu arbeiten und die Fähigkeit entwickeln, komplexe Probleme gemeinsam zu lösen.

Wie gehen wir als Universität mit den Folgen der Pandemie um?

Ein positiver Aspekt der Pandemie war, dass Lehre als Thema stärker sichtbar wurde und wir viele gute Ansätze zur Integration von digitalen Elementen in die Lehre entwickelt haben. Gleichzeitig ist für die Studierenden ein großer Druck entstanden, sie klagten über Einsamkeit, weil sie den Lernprozess alleine zuhause bewältigen mussten, was sich auch auf mentale Gesundheit ausgewirkt hat. Die ptb, die Psychologisch-Therapeutische Beratung der LUH, verzeichnet seitdem noch immer einen großen Zulauf. Dabei wird deutlich, dass das Studieren viele soziale Aspekte hat und dabei hilft, sich selbst in der Welt zu verorten, Kontakte zu knüpfen und ein eigenes Leben nach der Schulzeit zu entwickeln. Wer während der Pandemie im Lockdown mit dem Studium begonnen und immer nur allein gelernt hat, konnte diese Aspekte des Studiums nicht erfahren und kommt irgendwann an seine oder ihre Grenzen. Für uns ist Präsenz der einzige Weg, dem zu begegnen. Deshalb haben wir relativ schnell unsere Türen geöffnet, um Begegnungsräume zu schaffen und studentisches Leben wieder zu ermöglichen. Auch andere Beratungsstellen der LUH – etwa das Hochschulbüro für Chancenvielfalt, die Zentrale Studienberatung und die Ombudsperson für Studium und Lehre – können bei Schwierigkeiten helfen.

In den vergangenen Jahren wurde ein deutlicher Akzent bei den sogenannten MINT-Fächern gelegt. Braucht es dazu nicht auch die Geisteswissenschaften, etwa um Aspekte wie Ethik ins Spiel zu bringen?

Wir sind an der LUH breit aufgestellt. Innerhalb der TU9 sind wir die Universität mit dem größten Anteil an Geisteswissenschaften und der größten Lehrkräftebildung. Das ist eine besondere Qualität, die uns auszeichnet, denn Interdisziplinarität ist stark nachgefragt – auch bei Studiengängen. Ein gutes Beispiel dafür ist der neu geschaffene Studiengang Nachhaltige Ingenieurwissenschaft, der eine Weiterentwicklung des klassischen Bachelor Maschinenbau darstellt und sich inhaltlich auch mit einigen der wesentlichen Zukunftsfragen befasst. Unsere Fächervielfalt ist ein besonderes Potenzial, das wir meiner Ansicht nach noch nicht ganz ausschöpfen. Wir könnten noch weitere Studiengänge in dieser Weise weiterentwickeln, auch um mit unserem Studienangebot weiterhin ein attraktiver Standort zu bleiben. In den deutschen Hochschulen gehen die Studierendenzahlen in den letzten Jahren kontinuierlich und zum Teil dramatisch zurück. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns aber um die jungen, klugen Köpfe mit einem entsprechenden Angebot deutlich bemühen.

Wie wirkt sich die Unterfinanzierung der Universitäten auf die Lehre an der LUH aus?

Um neue Dinge zu etablieren, braucht man Geld. Genau wie in Privathaushalten versuchen wir als Universität, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren, Dinge zu überdenken, zu reformieren und – bei Bedarf – auch zu reduzieren. Mehr ist nicht immer besser. So müssen wir uns fragen: Welche Studiengänge werden nachgefragt, welche nicht, warum ist das so und wie begegnen wir dem? Zurzeit sind wir außerdem dabei, im Zuge der Stiftungswerdung eine Lehrverfassung zu etablieren, auch um unsere Werte in Studium und Lehre klar und transparent zu machen und unser Selbstverständnis einer positiven, kritisch-konstruktiven Lern- und Lehrkultur festzuschreiben. Die Entwicklung der Lehrverfassung legen wir als beteiligungsorientierten Prozess an, in dem wir z.B. auch über unsere Prüfungskultur und unser Qualitätsverständnis von Lehre über alle Statusgruppen hinweg diskutieren wollen.

Dabei dürfen wir eines nicht vergessen: Als Bildungsinstitution mit starker nationaler und internationaler Strahlkraft in Lehre und Forschung hat die LUH ein unfassbar großes Potenzial, an der Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit mitzuwirken.