Gottfried in a Nutshell #4

Leibniz und der Zahn des Riesen

Im Juni 1697 erreichte Hofrat Leibniz in Hannover ein Paket aus Wolfenbüttel. Es enthielt einen sonderbaren, riesigen Zahn. Neben der beigelegten maßstabsgetreuen Zeichnung führte der Brief aus, „daß ein Menschen Gerippe von greulicher Größe gefunden worden“ und man Herrn Leibniz zur Expertise konsultieren wolle. Leibniz notierte am Rand des Blattes: „Vermeinter Riesenzahn bey Wolfenbüttel gefunden Junii 1692“. An Kurfürstin Sophie schrieb er von Hannover nach Herrenhausen: „Aus Braunschweig ist mir gerade der recht große Zahn eines ungewöhnlichen Tieres geschickt worden, dessen Skelett bei dieser Stadt gefunden worden ist. Und man fragt mich nach meiner Meinung darüber. Der große Haufe will unbedingt, dass er von einem Riesen stammt.“ Leibniz glaubte nicht an Märchen. Wenn dies ein Riese gewesen wäre, „dann müsste er so groß sein wie ein Haus“.

Vieles war bisher unerklärt. Neben dem Aberglauben zog man meist die Bibel zur Interpretation von rätselhaften Funden oder erdgeschichtlichen Abläufen heran. Auch das Erdalter wurde aufgrund von Angaben aus dem Alten Testaments berechnet: Der irische Bischof Ussher (1650) setzte das Schöpfungsdatum der Erde auf den 23.10.4004 v. Chr. 9 Uhr morgens fest. Isaac Newton datierte aufgrund astronomischer Berechnungen Usshers-Kalender um 534 Jahre vor. Dass er sich dabei um ca. 4.542.994880 Milliarden Jahre verschätzte, ahnte er nicht. Leibniz war hier auf einer besseren Spur. Er wollte die ‚Zeugen‘ der Natur statt der Urkunden der Menschen zur Interpretation des Erdalters heranziehen.

‚Riesenzahn‘, Zeichnung des Fundstücks ‚Riesenzahn‘, Zeichnung des Fundstücks ‚Riesenzahn‘, Zeichnung des Fundstücks
‚Riesenzahn‘, Zeichnung des Fundstücks bei Wolfenbüttel. Unterer Blattrand: „Vermeintlicher Riesenzahn bey Wolfenbüttel gefunden Junii 1692“, Notiz von Leibniz‘ Hand, GWLB

Das Interesse an der Geowissenschaft hatte Leibniz während seiner vielen Reisen auf den Harz entdeckt. Hier versuchte er mit innovativen Erfindungen, den Oberharzer Silberbergbau zu verbessern. Dies gab ihm auch Gelegenheit, die dortigen Höhlen zu besichtigen. Er legte eine Gesteins- und Fossiliensammlung an, die vermutlich etwa hundert Stücke enthielt. Bald reifte auch sein Gedanke, die Geschichte des Welfenhauses um ein Vorwort mit nichts weniger als den universalen Geschichtsabläufen zur Ur- und Frühgeschichte der Region Braunschweig-Lüneburg zu ergänzen. Er begann, das Buch über die Urerde, die Protogaea, zu verfassen. Besonders die Abbilder von Fischen im Osterröder Kupferschiefer hatten es ihm angetan. Damals glaubten die meisten Menschen, die Bilder in den Steinen seien „ludus naturae“, die Launen der Natur, eines Schöpfergottes, der „wie im Scherz Zähne und Knochen von Tieren, Muscheln und Schlangen nachgeahmt hat“. Leibniz sah die große Ähnlichkeit der Fische mit heutigen Arten und auch, dass die Funde gehäuft parallel der Schichtung vorkamen. Er erkannte, dass die Fossilien „tierische Überreste“ waren, deren einstige Körper längst zerstört und mit „metallischem Stoff ausgefüllt wurden“. Dass Gott einst die Sintflut geschickt hatte, bezweifelte auch Leibniz wie die meisten seiner Zeitgenossen nicht. In 1. Moses 6 war zu lesen, die Wasser standen 15 Ellen über allen Bergen. Obwohl ihm manche Ideen über Entstehung des Lebens durchaus schlüssig klangen: „Manche gehen in der Willkür des Mutmaßens soweit, daß sie glauben, es seien erstmals, als der Ozean alles bedeckte, die Tiere, die heute das Land bewohnen, Wassertiere gewesen, dann seien sie mit dem Fortgang dieses Elementes allmählich Amphibien geworden und hätten sich schließlich in ihrer Nachkommenschaft ihrer ursprünglichen Heimat entwöhnt“ wagte Leibniz doch nicht, sich von der Bibel zu lösen: „Doch solches widerspricht den Heiligen Schriften, von denen abzuweichen sündhaft ist.“ So erkannte Leibniz zwar die große Ähnlichkeit des ‚Riesenzahns‘ mit den Backenzähnen von Elefanten, die „voller Furchen und Einkerbungen [sind] so wie bei Mühlsteinen, womit sie ihre Nahrung zu einer Masse wie aus Mehl zerkleinern, indem sie sie zwischen diesen Zähnen zermalmen. Und solche Furchen sieht man an diesem Zahn“. Um im Sintflut-Paradigma zu bleiben, folgerte Leibniz aber, dass es sich um die Überreste von Meerestieren handeln müsse: „Denn im Nordmeer gibt es Walrosse oder Seekühe, die gewisse Ähnlichkeit mit dem Elefanten haben“.

Heute wissen wir: Der ‚Riesenzahn‘ ist der linke, obere Backenzahn eines riesigen Wollhaarnashorns, welches einst im eiszeitlichen Wolfenbüttel lebte. Dies ist wohl nicht weniger faszinierend als die Vorstellung von einem Riesen. Die Protogaea schloss Leibniz mit den Zeilen: „So tritt für uns die Natur an die Stelle der Geschichte. Unsere Geschichtsschreibung dagegen vergilt diese Gnade der Natur, auf daß ihre herrlichen Werke, die uns noch vor Augen liegen, der Nachwelt nicht unbekannt bleiben.“

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Dr. Ariane Walsdorf
Referat für Kommunikation und Marketing
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