Jüngste Weiterentwicklungen der Elektronen-Kryomikroskopie machen es möglich, eine Schwelle in der pflanzengenetischen Grundlagenforschung zu überschreiten: Die Arbeitsgruppe von Dr. Jennifer Senkler und Prof. Hans-Peter Braun vom Institut für Pflanzengenetik der Leibniz Universität Hannover (LUH) konnte erstmalig ein zentrales Enzym des Pflanzenstoffwechsels auf atomarer Ebene untersuchen. Dieses bildgebende Verfahren ist erst seit kurzer Zeit technisch möglich. Durch die neuen Einblicke können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun Erkenntnisse über die genaue Funktionsweise der pflanzlichen Zellatmung gewinnen, die bislang in dieser Detailschärfe nicht möglich waren.
Das Projekt entstand im Rahmen einer Kooperation mit Niklas Klusch, Dr. Özkan Yildiz und Prof. Werner Kühlbrandt vom Max-Planck-Institut für Biophysik in Frankfurt. Im Fokus stand die Frage, auf welche Weise Pflanzen regulieren können, dass stets die richtige Menge der energiereichen Verbindung Adenosintriphosphat (ATP) zur Verfügung steht, durch die ihr Stoffwechsel angetrieben wird. Pflanzen stellen mithilfe der Photosynthese Zucker her. Etwa die Hälfte dieses gebildeten Zuckers verwenden sie, um im Zuge der Zellatmung die Verbindung ATP zu bilden. Wie genau die Regulierung der Menge an ATP funktioniert, ist bisher unbekannt. Durch die bildgebende Darstellung konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun die atomare Struktur eines Schlüsselenzyms der Zellatmung, die mitochondriale NADH-Dehydrogenase, aufklären.
Dieser so genannte Komplex I, der auch in den Mitochondrien von Tier und Mensch vorkommt, besteht aus zwei großen Armen, die zu einer L-Form zusammengesetzt sind. Man nimmt an, dass die Aktivität dieses Enzymkomplexes durch eine kleine Veränderung des Winkels zwischen den beiden Armen reguliert wird. Das Forscherteam hat durch die Darstellung auf atomarer Ebene eine schmale Proteinbrücke entdeckt, die die beiden Arme des Komplex I diagonal verbindet und so vermutlich eine Feinjustierung ihrer Orientierung zueinander erlaubt. Die Pflanzenforscher gehen davon aus, dass der Brücke eine wichtige Rolle zukommt, um die Aktivität des Komplex I und damitindirekt die Menge ATP, die im Zuge der pflanzlichen Zellatmung gebildet wird, zu regulieren.
"Für dieses Projekt konnten wir das Kryo-Elektronenmikroskop unserer Kooperationspartner in Frankfurt nutzen", erläutert Prof. Dr. Hans-Peter Braun. Diese mit flüssigem Stickstoff gekühlten Geräte sind groß und sehr teuer, so dass es derzeit in Deutschland nur wenige gibt. Nutzungszeiten an den Geräten sind extrem begehrt. "Man kann es vielleicht mit neuen Fernrohren vergleichen, mit denen man plötzlich etwas im Weltraum sehen kann, was vorher komplett verborgen war", sagt Braun. "Alle Forschergruppen wollen natürlich ''ihre'' Enzyme sehen." Daher freuen sich die hannoverschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehr, dass sie ihre Partner in Frankfurt von der Bedeutung ihres Forschungsprojektes überzeugen konnten.
Die Leistungsfähigkeit der Elektronen-Kryomikroskopie konnte in jüngster Zeit mittels neuer Kameratechnologie und Bildverarbeitungs-Software enorm gesteigert werden. Die Kooperationspartner vom Max-Planck-Institut für Biophysik in Frankfurt waren an der Entwicklung und Optimierung dieser Methode maßgeblich beteiligt. Mit dieser Technologie können nun molekularbiologische Vorgänge in bisher unerreichter Weise mit atomarer Auflösung untersucht werden.
In Hannover erfolgte zunächst die Aufreinigung des Enzymkomplexes aus der Modellpflanze Arabidopsis thaliana. In Frankfurt wurden dann schockgefrorene Präparate des Proteinkomplexes im Elektronenmikroskop analysiert. Dabei nahm eine automatisierte Kamera hunderttausende Bilder von Komplex-I-Partikeln auf, die nachfolgend im Computer analysiert wurden und zu einem nahezu vollständigen atomaren Modell des Komplex I aus Pflanzen führten.
Publikation:
Klusch, N., Senkler, S., Yildiza, Ö., Kühlbrandt, W. & Braun, H.P. (2021)
A ferredoxin bridge connects the two arms of plant mitochondrial complex I.
The Plant Cell, in press.
https://doi.org/10.1093/plcell/koab092
Hinweis an die Redaktion
Für weitere Informationen steht Ihnen Prof. Dr. Hans-Peter Braun, Institut für Pflanzengenetik, unter Telefon +49 511 762 2674 oder per E-Mail unter braun@genetik.uni-hannover.de gern zur Verfügung.